Katalogtext aus „Turbulenzen“ 2009 von Florian Ebner
Es gibt Fotografien, bei deren Anblick man denkt, alle Dinge haben ihren richtigen Platz im Bild – und dies gleich in doppelter Hinsicht. In der Betrachtung fotografierter Räume findet man oftmals Konstellationen von Gegenständen vor, die plausibel wirken, authentisch in ihren Beziehungen untereinander und zu dem sie umgebenden Raum. Vielleicht ist gerade nur jemand hinausgegangen und ein unsichtbares Regiment wacht über die Ordnung der Dinge. Diese Ordnung mag aber auch in kompositorischer Hinsicht als richtig erscheinen – so wie die Dinge auf der Fläche (und im Raum) des Bildes verteilt und gewichtet sind.
Sicherlich bedingen sich diese beiden Ebenen – nennen wir sie die dokumentarische und die bildnerische – in großem Maße gegenseitig. In der realistischen Beschreibungskunst eines Walker Evans etwa, des großen amerikanischen Fotografen der Moderne, kommen sie zur Deckung. Message from the Interior heißt ein Portfolio von 1966, in dem er in zwölf großen Bildtafeln, davon elf Interieuraufnahmen, die Bilanz aus seinen Ansichten des amerikanischen Innenlebens zieht.
Mit „Botschaft aus dem Innenraum“ könnte man auch die Serie Fake Spaces von Kerstin Flake beschreiben. Allerdings gestaltet sich das Verhältnis der beiden Ordnungen in ihren neuen Bildern auf dialektische Weise. Entstanden in verschiedenen, leer stehenden Gründerzeithäusern weisen die Fotografien allesamt ein flagrantes Element auf, das die konventionelle Ordnung dieser entleerten Räume auf den Kopf stellt. Rätselhafte Momente und bizarre Konstellationen durchziehen die fotografisch sorgfältig ins Bild gesetzten Interieurs: Alltägliche Objekte wie Kleiderbügel und Tüten sind ins Schweben geraten; Tische und Türen nehmen Positionen ein, die in keiner Weise ihrer Funktion entsprechen; Hut und Eimer werden zu Objekten einer gespenstischen Levitation auf dem Dachboden oder im Treppenhaus; Tapeten hängen in großen Falten vor einer vermeintlich gefliesten Wand, die ebenfalls nur Tapete ist; und einige Scherben einer Glastür fliegen noch durch die Luft, womöglich zerschlagen von einer aus der Halterung geratenen Lampenfassung. Kerstin Flakes Störungen der Ordnung sind temporäre Konstellationen, die sie als letzte „Benutzerin“ der verwaisten Häuser für die Kamera konstruiert. Von diesen Interventionen im Raum bleiben somit nur Erscheinungen eines Spuks, dessen Geschichten wie selbstverständlich zum jeweils dargestellten Ort zu passen scheinen und die sich doch dem Betrachter entziehen.
Die Fake Spaces entwickeln den Ansatz der Leipziger Fotografin weiter, dem eine Art methodisches Paradox innewohnt. So spielt der „inszenierte Unfall“ bereits in den frühen Serien eine wichtige Rolle, wenn etwa, wie in es war nur ein Moment (2003), eine Plastiktüte im urbanen Niemandsland just in den Momenten vor das Objektiv geflattert ist, als die Fotografin den Auslöser drückte, um die Ereignislosigkeit der Stadtlandschaft zu dokumentieren.
In den Aufnahmen der Serie Wände sprechen Bände (2000/01) hingegen fungieren Modellräume aus Möbelhäusern als Szenerien für kleine Katastrophen. Den nur angedeuteten Akteuren in diesen Kulissen entgleitet die Kontrolle über die Situation, als Figuren treten sie in die zweite Reihe, während es im Vordergrund zu einem Aufstand der Alltagsgegenstände kommt. Der fliegende Farbtopf, die reißende Tragetüte und der fallende Fotoapparat stehen metaphorisch für den Einbruch des Ernstfalls – der Wirklichkeit – in die glatten Kulissen einer simulierten Wohnkultur.
Im Gegensatz zu dieser artifiziellen Welt besitzen die Gründerzeitinterieurs aus Flakes neuer Serie ein Übermaß an Geschichte. Nicht von ungefähr weisen die Fotografien in ihrer surrealistischen Tonalität diesen leicht gespenstischen Charakter auf. Dem Vorgehen der Fotografin entsprechen daher weniger die vielen Varianten der künstlerischen Spurensucher, die ihr Material inventarisieren und historisieren. Vielmehr erinnert ihr unheimliches Wirken an das einer „Wiedergängerin“, die an die Orte zurückkehrt, an denen die Vergangenheit nicht zur Ruhe kommen will, und die in ihren rätselhaften Konstellationen die Dinge mit einer gewissen Autonomie ausstattet, nachdem die zuvor herrschende Ordnung längst schon das Haus verlassen hat. Nicht zuletzt – und hierin steht sie der künstlerischen Rezeption spiritistischer Fotografie des ausgehenden 19. Jahrhunderts nahe, wie man sie bei Johannes Brus und Sigmar Polke oder im Werk von Bernhard und Anna Blume findet – entbehren ihre Bildkonstruktionen nicht einer bestimmten Komik, die sie vor der distanzierten, aber letztlich resignierenden Bestandsaufnahme der Leere und dem Pittoresken der Ruine, zwei stereotypen Sichtweisen der klassischen Dokumentarfotografie, bewahren.
Es ist daher kaum vorstellbar, dass Flakes Inszenierungen am Computer zusammenmontiert werden könnten und nicht wirklich aus realen Handlungen heraus entstehen. Hinsichtlich der fortschreitenden Virtualisierung aller Lebensbereiche sind die kleinen gebastelten Interventionen im obsolet gewordenen Habitat der Stadt auch als ein Akt des Widerstands zu verstehen, der zudem auf spielerische Weise das Versprechen der Fotografie erweitert: nicht nur eine vergangene (So ist es gewesen), sondern auch eine vorstellbare Wirklichkeit (Könnte es nicht auch so sein?) zu zeigen. Hierin besitzt Kerstin Flakes durchaus dokumentarisch zu nennende Haltung auch eine affektive Qualität. Vielleicht ist dies eine der Botschaften, die man aus den vorliegenden Interieurs herauslesen kann.
Florian Ebner